Grüner Tee, insbesondere der Inhaltsstoff EGCG, gilt vielen als Wundermittel für ein gesundes und langes Leben. Leider verlangsamt EGCG nicht den Krankheitsverlauf der Multisystematrophie (MSA). Veränderungen im Hirn deuten trotzdem auf eine Wirksamkeit, vielleicht führt es einmal zu einer funktionierenden Therapie.
Parkinson-Krankheit und Multisystematrophie (MSA) sind kontinuierlich fortschreitende Krankheiten, bei denen Gehirnzellen absterben. Begleitet wird der Prozess von Ablagerungen eines falsch “gefalteten” Proteins. Manche pflanzliche Farb-, Geschmacks- oder Gerbstoffe (Polyphenole), zum Beispiel Quercetin aus Äpfeln, Zwiebeln und Weintrauben und Epigallocatechingallat (EGCG) aus der Teepflanze, verhindern im Reagenzglas solche Ablagerungen (FEBS Letters (2011)). Außerdem sind sie als Nahrungsergänzungsmittel frei erhältlich, EGCG meist als “Grüntee-Extrakt”.
Aber Experimente im Reagenzglas sind grobe Vereinfachungen der Situation im menschlichen Organismus. Daher wollten ÄrztInnen verschiedener deutscher Universitäten und Krankenhäuser herausfinden, ob EGCG Proteinablagerungen auch im Menschen verhindert und ob dadurch das Fortschreiten von MSA aufgehalten wird. Dem ist leider nicht so, trotz einer fast einjährigen Einnahme von vergleichsweise hohen Dosen EGCG. Die Symptome verschlechterten sich genauso stark wie bei der Einnahme von Placebos. In Kernspinaufnahmen der Gehirne einer kleinen Untergruppe gab es allerdings Hinweise darauf, dass die Nerven langsamer abgebaut werden (The Lancet (2019)), EGCG also vielleicht doch nicht komplett wirkungslos ist.
Doppelt blinder Vergleich mit Placebo-Gruppe
Für den Versuch wurden ProbandInnen ausgewählt und dann deren Gesundheitszustand anhand eines standardisierten Tests bewertet. Dieser Test bestimmt anhand motorischer Fähigkeiten des täglichen Lebens eine Punktzahl, die zum Beispiel Probleme beim Anziehen oder bei der Essenszubereitung berücksichtigt.
Wenn EGCG wirksam ist, müsste die Einnahme einen leichteren Krankheitsverlauf zur Folge haben als eine wirkungslose Substanz. Da Krankheiten bei jedem Menschen anders verlaufen können, werden bei Studien mit vielen Teilnehmern kleinere Effekte sichtbar. Beobachtungen nur eines Patienten haben keine allgemeine Aussagekraft. Die EGCG-Studie war mit etwa achtzig Teilnehmern so gestaltet, dass nur ein relativ großer Effekt sichtbar würde.
Der Krankheitszustand nach insgesamt 48 Wochen allmählich ansteigender Dosen (von täglich 400mg auf 1200mg), gemessen mit den gleichen Tests wie zu Beginn, zeigte aber keinen Unterschied zwischen EGCG- und Placebo-Einnahme: die Symptome änderten sich bei beiden Gruppen im gleichen Maße.
Das ist natürlich enttäuschend. Entweder wirkt EGCG nicht wie erhofft, oder der Effekt ist für die gewählte Studiengröße zu klein. Möglich ist auch, dass die Wirkung erst nach längerer Einnahme oder in Kombination mit anderen Therapien eintritt. Denn dass EGCG doch einen Einfluss hat, zeigen die Kernspinaufnahmen des Gehirns einer kleinen Untergruppe der ProbandInnen. Zwar ist die Gruppe zu klein, um statistisch zuverlässige Aussagen zu treffen, dennoch scheinen die Nerven in der EGCG-Gruppe weniger rasch abzubauen als in der Placebo-Gruppe. Der Stoff aus dem Grünen Tee könnte also in der Zukunft doch noch zu einer funktionierenden Therapie für MSA führen, beispielsweise durch eine chemisch ähnliche Substanz mit geringeren Nebenwirkungen und damit höheren möglichen Dosen.
Nebeneffekte
Grüner Tee hat den Ruf eines gesunden Getränks. Tatsächlich hat er fast keine Kalorien und nur wenig Koffein. Was Gesundheit und Langlebigkeit betrifft, sind die wissenschaftlichen Studien bezüglich des Tees und seiner Inhaltsstoffe nicht ganz so euphorisch, wie manche es sich vielleicht wünschten. Zwar gibt es in den tausenden von Studien einige vielversprechende Ergebnisse, aber oft stammen sie aus Experimenten im Reagenzglas, in der Petrischale oder an Tieren. Und angesichts der immer wiederkehrenden Berichte über das Wundermittel EGCG, sollten auch die Gefahren des frei verkäuflichen Nahrungsergänzungsmittels berücksichtigt werden.
Denn wie alle Stoffe kann auch EGCG unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen, die auch noch durch das Trinken von Grapefruitsaft verstärkt werden. Die Gefahr droht hier vor allem der Leber, was seit mindestens zwanzig Jahren bekannt ist. GenießerInnen Grünen Tees können auch bei großzügigem Genuss unbeschwert bleiben, aber die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln mit EGCG (Grüntee-Extrakt oder reines EGCG) spielt in einer anderen Liga. Erstens ist bei diesen der Inhalt teilweise sehr ungenau angegeben (z.B. mit “enthält 90% Polyphenole”) und zweitens sind in mancher Kapsel 600mg EGCG und mehr. Eine Überdosis ist so leicht erreicht, Lebervergiftungen durch EGCG bis hin zu notwendigen Transplantationen sind bereits mehrfach beobachtet worden (BBC (2018), Gloro (2015)).
In bisherigen klinischen Studien wurden bei Dosen bis zu 600mg/Tag keine Leberschäden beobachtet. Um einen Spielraum einzuräumen, werden 300mg/Tag als sicher angesehen (Dekant (2017)). Die Dosen der aktuellen Studie gehören zu den höchsten aller klinischen Versuche. Zur Sicherheit wurden daher die Leberwerte der ProbandInnen regelmäßig beobachtet, um rechtzeitig eingreifen zu können und die Einnahme zu reduzieren oder abzubrechen. Bei jeder sechsten Person der EGCG-Gruppe war das notwendig. Bei so hohen Mengen ist also tatsächlich mit Gefahr für die Leber zu rechnen. Von einer vergleichbaren Selbstmedikation ist also dringend abzuraten.
Mehr Informationen über Nutzen und Schaden von Grünem Tee und seinem Extrakt finden sich auch bei “Ernährungsmedizin Blog” (2018) und “Medizin-transparent” (2016).
©Niko Komin (@kokemikal)
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Quellenangabe:
- Originalartikel: “Safety and efficacy of epigallocatechin gallate in multiple system atrophy (PROMESA): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial”, Levin et al., The Lancet (2019)
- mit Polyphenolen gegen α-Synuclein: “Inhibition and disaggregation of α‐synuclein oligomers by natural polyphenolic compounds”, Caruana et al., FEBS letters (2011)
- Leberschaden durch Grüntee-Extrakt: “Fulminant hepatitis during self-medication with hydroalcoholic extract of green tea.”, Gloro et al., Eur J Gastroenterol Hepatol. (2005)
- Sicherheit von EGCG: “Safety assessment of green tea based beverages and dried green tea extracts as nutritional supplements” Dekant et al. (2017)
Bildnachweis:
- Titelbild: „Grüner Tee (Sencha), Blätter“ von Niko Komin
- Kernspintomografie des Gehirns, erstellt von Dr. Laurent Hermoye, (CC BY-SA 3.0)
- Grüntee-Extrakt von aixklusiv (Pixabay)