Grippe: Motorisierte Viren

Grippevirus unter dem Elektronenmikroskop. Eingefärbte Aufnahme: die Virushülle ist weiß, die Spike-Proteine sind orange. Quelle: CDC

Viren benutzen Zellen von Pflanzen, Tieren und Bakterien, um sich selbst zu vermehren. Dazu müssen sie in die Zelle eindringen. Bei Grippeviren geschieht das vor allem in den oberen Atemwegen. Diese sind mit Schleim überzogen, der durch die koordinierte Bewegung kleiner Härchen ständig Richtung Rachen bewegt wird. Das schützt die Lunge vor Viren, Bakterien und Staub. Doch die Grippeviren haften mit speziellen Proteinen auf der Virushülle an Rezeptoren der Schleimhautzellen fest. Außerdem können Grippeviren aktiv auf den Zellen wandern, obwohl Viren im Gegensatz zu Bakterien keinen eigenen Stoffwechsel besitzen und daher selbst keine Energie produzieren.

Andere Proteine auf der Virushülle, Enzyme, schneiden die Rezeptoren von den Zellen. Ohne diese Enzyme stoppt die Bewegung, wie Experimente gezeigt haben. Das Zusammenspiel aus Anhaften und Abschneiden haben sich Falko Ziebert und Igor Kulić genauer angeschaut. Sie kommen zu dem Schluss, dass ein asymmetrisches Gezerre entsteht und als Folge die Viren über die Zellen rollen.

Am Anfang war die Spaghetti

Falko Ziebert und Igor Kulić kennen sich, seit Ziebert vor etwa zehn Jahren als Postdoktorand am Institut Charles Sadron in Straßburg arbeitete. Dort forscht Kulić heute noch, während Ziebert inzwischen an der Universität Heidelberg angestellt ist.

Screenshot aus Video zeigt  die warme Metallplatte auf der eine Spaghetti liegt. Unten rot leuchtende Zahlen.
Video von verschiedenen Fasern auf einer warmen Platte. Spaghetti, Borste eines Backpinsels aus Silikon, Angelschnüre. Die Spaghetti rollt auf einer kalten Oberfläche weiter, bis sie abgekühlt ist. Quelle: Baumann et al. (2018)

Unter anderem studieren sie Fasern und wie diese sich von selbst bewegen können. Als Beispiel beschreibt uns Igor Kulić folgendes Experiment für Zuhause: “Legt einfach eine trockene Spaghetti auf eine heiße Oberfläche”. Auf einer nicht zu heißen Pfanne, sauber und nicht klebrig, rollt die Spaghetti dann einfach los, weil sie sich einseitig erwärmt und dadurch innerlich verzieht. Wie das genau funktioniert, beschrieben Ziebert und Kulić vor ein paar Jahren, illustriert mit Videos von rollenden Spaghetti, Angelschnüren und Backpinselborsten.

Von Viren war in dem Artikel nicht die Rede. Doch die beiden vermuteten damals, dass auch Viren sich auf diese Art bewegen könnten. Inspiriert wurden sie dabei von der länglichen Form des Ebolaerregers. Bewegte Ebolaviren wurden bis heute nicht beobachtet und vielleicht werden sie das auch nie. „Doch dann stolperten wir über diesen interessanten Artikel dieser japanischen Gruppe.“ WissenschaftlerInnen am Labor von Mineki Saito hatten in Japan Glasoberflächen mit jenen Rezeptoren beschichtet, an denen sich Grippeviren festhalten können. Sie filmten die wandernden Viruspartikel während sie Grippemedikamente hinzu gaben, die das Abschneiden verhindern. Die Viren kommen dadurch zum Stillstand. Diese Ergebnisse veröffentlichen sie in 2017 und 2018.

Mikroskopaufnahme in schwarz-weiß. Grippevirus ist ein schwarzer, bogenförmiger Strich auf grau verrauschtem Hintergrund. Im verlinkten Video wandert der Strivh von rechts unten nach links oben.
Fadenförmiges Grippevirus rollt schräg über das Bild. Das Video ist 100fach beschleunigt, das Virus etwa einen Tausendstel Millimeter lang. Quelle: Sakai et al. (2018)

Grippeviren sind rund, oval oder länglich und in manchen der Videos aus dem japanischen Labor sieht man, wie gekrümmte Fäden über das Glas wandern. “Das führte mich für eine Weile auf eine falsche Spur”, erzählt Kulić. Es kommen ja verschiedene Erklärungen in Frage, also auch innere Verspannungen wie bei den Spaghetti. “Aber wenn wir zu den eigentlichen Daten gehen, was wissen wir dann?”

Typische Größen der Viren sind bekannt, auch wie dicht die Rezeptoren auf den Zellen wachsen, wie viele Gegenstücke und Enzyme auf den Viren sitzen und wie schnell die Proteine arbeiten. “Dann fingen wir an, herumzuspielen”. Sie setzten die bekannten Zahlen in die verschiedenen Formeln möglicher Bewegungsarten ein. “Letztendlich ist das Rollen der einzige Weg, der immer funktioniert”.

Die Rezeptoren auf der Zelloberfläche sind kleine Federn. Sie strecken und stauchen sich und wenn sie mit dem Virus verbunden sind, ziehen sie dieses ein wenig nach unten. Gelegentlich werden die Rezeptoren von den Enzymen zerschnitten und können dann nicht mehr an das Virus andocken. So wird das Virus in die entgegengesetzte Richtung gezogen, es entsteht ein Ungleichgewicht und das Virus rollt immer weiter.

Schema: Kreisförmiger Querschnitt durch Grippevirus. Darunter eine Zelle auf der viele kleine Rezeptoren stehen. An der Virushülle haften zwei Proteine, eines klebt mit Rezeptor zusammen, das andere zerschneidet die Rezeptoren.
Grippeviren rollen über Zelloberflächen, indem das Anheften an den Rezeptoren und das Abschneiden zu einem Ungleichgewicht führt.

Richtige Größe

Oft geht es in der theoretischen Forschung eher um allgemeine Zusammenhänge. Für konkrete Zahlen braucht man neben einer vollständigen und korrekten Formel auch das Wissen verschiedener Eigenschaften, die oft nicht oder ungenau bekannt sind. Dann kann man natürlich so lange verschiedene Kombinationen ausprobieren, bis das Ergebnis den Experimenten nahe kommt. “Das haben wir nicht getan”, so Kulić.

Die Eigenschaften der Proteine waren ja aus den Experimenten anderer ForscherInnen grob bekannt. Als Ziebert und Kulić die Zahlen in ihre Formeln einsetzen, kommen sie den Geschwindigkeiten aus dem japanischen Labor erstaunlich nah. “Das war schon eine angenehme Überraschung!”

Zwischen zehn und zwanzig Nanometer weit rollen die Viren in einer Sekunde. Weit kommen sie damit nicht: etwa zwei Millimeter pro Tag. Doch vielleicht geht es nicht darum, weit zu kommen, sondern an den richtigen Ort? Die Härchen auf der Schleimhaut sind sehr fein, für die Viren bieten sie wahrscheinlich nicht genug Platz zum Eindringen. So schrieben es schon die japanischen ForscherInnen. Von der Spitze zum Fuß bräuchte ein Viruspartikel nur zwanzig Minuten. Die ausgerichtete Bewegung des Virus ist auf der Suche nach einer geeigneten Stelle von Vorteil. Ein Vorteil, den manche Medikamente offenbar zunichte machen.

Letztendlich haben Grippeviren also doch eine Art Stoffwechsel, wie Ziebert und Kulić schreiben. Sie zerstören intakte Rezeptoren und verwenden die freigewordene Energie zur Fortbewegung.

©Niko Komin (@kokemikal)

Hierzu passender Artikel: „Bakterien in schmalen Gassen“ aus dem Januar 2019.


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